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„Tage russischer Musik am Bodensee“ (17. – 21. Oktober 2019)

Warum sind die nicht weltberühmt?

London, Coliseum. 1910.
In einer Vorstellung der international berühmten Tänzerin Ida Rubenstein ist ein kurzer Auftritt des Großrussischen Balalaika-Orchesters angekündigt, das auf so unbekannten Instrumenten wie Domra und Balalaika spielt. Der skeptische Regisseur des Coliseums hat den russischen Dirigenten Vladimir Andreev mit harschen und herablassenden Worten angewiesen, die vorgesehenen sechzehn Minuten keineswegs zu überschreiten. Es kommt anders. Das von der russischen Musik überwältigte Publikum verlangt eine Wiederholung, der Regisseur gibt nach und als das Orchester nach mehr als einer halben Stunde die Bühne verlässt, ist der Bann gebrochen. Die Musikkritiker der Londoner Zeitungen übertreffen sich im Lob der dreißig Musiker. Der Vertrag mit dem Volksorchester wird immer wieder verlängert: aus den ursprünglich geplanten wenigen Aufführungen werden 192. Edward VII, der englische König, lädt das Orchester zu einem Auftritt nach Schloss Windsor ein. Das Ziel des Dirigenten Andreev, die russischen Volksinstrumente bekannt zu machen, ist erreicht.

Owingen. Oktober 2019, „Tage russischer Musik am Bodensee“.
Das erste von vier Konzerten des „Staatlichen Russischen Volksorchesters Nischni Novgorod“ mit dem Dirigenten Viktor Kusnetzov hören im großen Saal des Kulturhauses etwa 120 Leute. Zwei Tage später im Ludwig-Dürr-Saal des Graf-Zeppelin-Hauses in Friedrichshafen werden schon 160 gezählt und das trotz starker Konkurrenz durch eine Ballettkompanie aus Moskau, die mit Tschaikowskis „Dornröschen“ im gleichen Haus gastiert. Beim nächsten Konzert im Augustinum in Meersburg steigt die Zahl auf 200; hier half es, dass viele Zuhörer in der Senioren Residenz im gleichen Haus leben. Und dann schließlich sind es in der gut gefüllten Kirche St. Jodokus in Immenstaad etwa 420 Besucher, die dem letzten Konzert lauschen. Jede Aufführung hatte ihr eigenes Programm.
Die wachsenden Besucherzahlen sind auch 2019 am Bodensee der großartigen Musikalität des Orchesters zu verdanken. Mit seiner unglaublichen Qualität und seinem Können gewann es die Herzen der Zuhörer von den ersten Tönen an. Wer Zweifel hatte, ob sich die Balalaika, die Domra oder die Gusli für klassische Musik eignen, war bald eines Besseren belehrt. Den ungarischen Tanz Nr. 1 von Brahms oder das Scherzo aus Mendelsohns Sommernachtstraum hat man so noch nie gehört. Aus der Oper „Fürst Igor“ von Borodin erklangen die Polowetzer Tänze, aus der Oper „Die verkaufte Braut“ von Smetana der Tanz der Komödianten. Viele Stücke stammten von bei uns weniger bekannten russischen Komponisten, von älteren oder von Zeitgenossen, wie Vadim Bibergan, der vor allem Filmmusik geschaffen hat. In Meersburg war der in Deutschland lebende Komponist V. Porozki anwesend, von dem zwei Stücke aufgeführt wurden, aus der Suite die „Bluthochzeit“ von Lorca der „Der Brautkranz“ und der „Choral“, vorgetragen auf einer Bajan.

Nach dem Konzert im Augustinum in Meersburg am 20.Oktober 2019:
Das Staatliche Russische Volksorchester Nischni Novgorod mit seinem Dirigenten
Viktor Kusnetzov, neben ihm der Komponist V. Porozki

Der Reichtum an musikalischen Stimmungen, die das ungewöhnliche Orchester erzeugt und die Präzision der rhythmischen Wiedergabe sind mit Worten nicht zu beschreiben. Höhepunkte waren Auftritte von Solisten aus dem Orchester. Ob mit Gusli, Domra, Balalaika oder mit Bajan, Oboe und Saxophon, das Publikum lauschte immer atemlos den mal kraftvollen und oft leisen Tönen, die zeigten, wie bewegend und zu Herzen gehend Musik sein kann.
Der hochdekorierte Dirigent Viktor Kusnetzov sieht sein Orchester als Nachfolger des Orchesters von 1910. Auch er will die russischen Volksinstrumente bekannt machen und zeigen, dass sie den höchsten musikalischen Ansprüchen genügen können. Das russische Bajan ist ein Knopfakkordeon. Die dreieckige Balalaika kennt man bei uns noch am ehesten. Die Domra, ihre runde Vorgängerin aus dem 13. Jahrhundert ist wie diese ein lautenähnliches Saiteninstrument. Sie ist weniger bekannt, ganz zu schweigen von der Gusli, die als Tischharfe oder als eine Art Zither beschrieben werden könnte. Letzteres wollte Kusnetzov so nicht stehen lassen, denn es handele sich bei ihr um das russische National-Instrument schlechthin seit dem 12. Jahrhundert.

                           Die Gusli, aufgenommen in einer Spielpause am 17. Oktober 2019 in Owingen

Die Geschichte dieser Konzertreise beginnt im September 2014 in Nischni Novgorod, wo meine Frau und ich schon nach zwei Wochen ahnungslos in ein Konzert des Staatlichen Russischen Volksorchesters gerieten. Wir wussten nicht was uns erwartet, waren aber sofort ergriffen von der filigranen, perfekt dargebotenen Musik. In den drei Jahren, die wir dort lebten, besuchten wir wann immer möglich die Konzerte, es mögen fünfundzwanzig gewesen sein. Kurz vor unserer Abreise am 8. Juli 2017 nach einem Konzert im World Trade Center fasste sich meine Frau ein Herz und fragte den Dirigenten Viktor Kusnetzov, ob er sich eine Tournee in Deutschland vorstellen könne. Zu unserer Überraschung war er nicht abgeneigt. Im Januar 2015 waren drei Ehepaare aus Immenstaad am Bodensee in Nischni Novgorod gewesen. Sie gehören zum Katholischen Bildungswerk, dass sich seit längerem für eine Verständigung mit Russland einsetzt und russische Musiker zu Konzerten an den Bodensee einlädt. Auch sie waren vom Orchester fasziniert und angetan von der Idee, dieses in Deutschland auftreten zu lassen. Nach vielen Telefonaten, Emails und nach weiteren Gesprächen meiner Frau mit Viktor Kusnetzov bei unseren Reisen nach Nischni Novgorod konnte schließlich die Reise an den Bodensee vereinbart und das Orchester eingeladen werden. Die vier Veranstaltungsorte wurden vom Katholischen Bildungswerk organisiert, ebenso die Ankündigungen in den lokalen Zeitungen und die Werbung durch Plakate und Handzettel.
Die männlichen russischen Musiker fuhren mit den Instrumenten im Bus aus Nischni Novgorod an der Wolga die 3000 km weite Strecke in die Martin-Buber-Jugendherberge Überlingen am Bodensee. Unterwegs übernachteten sie in Brest und in Dresden. Der Dirigent und die Musikerinnen kamen per Direktflug aus Moskau nach Memmingen. Das Ministerium für Kultur in Nischni Novgorod hatte die Reisekosten, zwei Millionen Rubel (etwa 28000 €), übernommen. Der Dirigent und das Orchester spielten ohne Gage. Auf deutscher Seite waren drei der vier Säle kostenlos, die Einnahmen aus dem Kartenverkauf und aus Spenden deckten knapp die Kosten des ganzen Festivals.
Alle deutschen Veranstalter dieser „Tage russischer Musik am Bodensee“ sind sich in der Bewertung einig: dieses Orchester hätte viel mehr Zuhörer und mehr als vier Konzerte verdient. Dafür hätte aber die Organisation durch uns engagierte, idealistische Laien nicht ausgereicht. Doch welche internationale Konzertagentur wagt es in der heutigen Überfülle an Angeboten und in dem schwierigen politischen Klima ein solches Vorhaben anzugehen?
Die musikalische Botschaft der Reise kam bei den Zuhörern an. Alle Konzerte endeten mit Beifallsstürmen. Kusnetzov erhielt die volle Zustimmung, als er ausrief: „Ich will unsere Musik in eure Herzen tragen“. Ein Tontechniker sagte: „Ich habe in diesem Saal schon viele Konzerte gehört. Das war mit Abstand das beste“. Mehrere der Besucher, die das Orchester bei einem der ersten Konzerte gehört hatten, kamen zu den nächsten und brachten noch Freunde mit. Manche erzählten stolz, sie hätten alle vier Aufführungen besucht. Die erfolgreichste aller Werbemethoden, die Mundpropaganda, klappte hervorragend. Immer wieder hörten wir Aussprüche wie „das war unglaublich“, „das Konzert hat mich glücklich gemacht“, oder „ich war zu Tränen gerührt“. Die Frage einer musikbegeisterten Frau habe ich als Titel für diesen Berichtes gewählt: „Warum sind die nicht weltberühmt?“.
Noch einmal zurück in das Jahr 1910.

Mannsfeld, der Sekretär des Großrussischen Balalaika-Orchesters, schreibt in seinem Bericht über den Aufenthalt in London: „Vor unserer Rückkehr wurde von der russisch-englischen Handelskammer und von Botschaftsangehörigen ein Mittagessen zu Ehren Andreevs gegeben. Viele der Anwesenden sagten, dass Vasili Vasiljevitsch Andreev mit seiner Musik die Tiefe der Seele des russischen Menschen gezeigt habe und dass die Engländer diese Seele gespürt und aufrichtig lieben gelernt hätten. Andreev habe – nach ihren Worten – ohne diplomatische Kniffe „den Stier bei den Hörnern gepackt“ und unseren jetzigen Verbündeten gezeigt, dass das russische Volk nicht der Barbar und der Wilde ist, als den es Deutschland darzustellen versucht“.

 

                         In der Pfarrkirche St. Jodokus in Immenstaad am Bodensee (21. Oktober 2019)

                              Rose Ebding, Viktor Kusnetzov, Konrad Veeser, Hubert Lehle, Udo Daecke
Ein russischer Dirigent und vier aktive Deutsche = fünf Freunde

 

Einen Eindruck von der Musik kann man über folgende Links bekommen:
• Konstantin Nosyrev, Domra: A. Zygankov, „Einführung und Czardas“
https://vk.com/konstantinnosyrevdomra?z=video152380284_456239066%2Fb3376b4231889f0315%2Fpl_wall_10770049

• Die Polowetzer Tänze aus der Oper „Fürst Igor“ von Borodin
https://oknamusic.online/play/andquot-%D0%BF%D0%BE%D0%BB%D0%BE%D0%B2%D0%B5%D1%86%D0%BA%D0%B8%D0%B5-%D0%BF%D0%BB%D1%8F%D1%81%D0%BA%D0%B8andquot-%D0%B4%D0%B8%D1%80%D0%B8%D0%B6%D0%B5%D1%80-%D0%B2%D0%B8%D0%BA%D1%82%D0%BE%D1%80-%D0%BA%D1%83%D0%B7%D0%BD%D0%B5%D1%86%D0%BE%D0%B2/7d7fXzGsmeU.html

• „Der Maestro stellt verschiedene Solisten vor“
https://iblogger.ru/play.php?video=IHchleojDLs

 

https://www.youtube.com/watch?v=vXctilMKjLc

• Teil 1 des Konzertes am 9.7.2017 im World Trade Center Nischni Novgorod,
Suite von V. Porozki nach Motiven der Tragödie „Bluthochzeit“ von F.G. Lorca (Musik ab 5 Min 40 Sek):

https://youtu.be/h_Bpln9247I

• Teil 2 des Konzertes am 9.7.2017 im World Trade Center Nischni Novgorod:
Piazolla, S. Berio, P. Sarasate, C. Chimenes.
Solisten: Michail Sokolov, Nikolaj Nasarov, Aleksjej Nemanov, Kristina Fisch:

Tage russischer Musik am Bodensee – 17. bis 21. Oktober 2019

In diesem Blog berichteten wir in den Jahren 2014 bis 2017 immer wieder begeistert von den Konzerten des Staatlichen Russischen Volksorchesters Nischni Novgorod. Wir haben in den Jahren unseres Aufenthalts in Nischni Nowgorod jede Gelegenheit genutzt, dessen Konzerte zu besuchen. Jetzt ist es gelungen, dieses Orchester für eine Tournee am Bodensee zu gewinnen. Es wird vier Konzerte geben.

Donnerstag, 17.10.2019, 19 Uhr im Kultur/O in Owingen
Samstag, 19.10.2019, 20 Uhr Zeppelinhaus Friedrichshagen
Sonntag, 20.10.2019, 17 Uhr im Augustinum in Meersburg
Montag, 21.10.2019, 19 Uhr in St. Jodokus in Immenstaad

Das Staatliche Russische Volksorchester mit seinem Dirigenten Viktor Kusnetzov

Mit ihren Balalaikas, Domras, Bajans und Guslis spielen sie russische Romanzen, die das Herz erwärmen und Tänze, die einen mit ihrem Temperament in Schwung bringen. Doch gehört zum Repertoire des „Staatlichen Russischen Volksorchesters Nischni Nowgorod“ nicht nur Volksmusik. Mit bewundernswerter Virtuosität lassen die vierzig Vollblutmusiker auch russische und internationale Klassik erklingen. Brahms und Mendelsohn gehören ebenso zu ihrem Repertoire wie Theodorakis und Piazzolla. Unter der Leitung ihres vielfach ausgezeichneten Dirigenten, Viktor Kusnetzov erschließen sie auch Musik zeitgenössischer Komponisten für ihre Instrumente. Die Solisten, Preisträger russischer und internationaler Wettbewerbe, zeigen erstaunliche Facetten. Musik, die Tradition und Moderne verbindet und immer Überraschungen bietet.

Ein Domra-Konzert

21.02.16

Als gestern Morgen, Samstag, nach ausgiebigem Zeitungslesen meine Frustration über die vielen Krisenherde in der Welt überhand zu nehmen drohte, bemerkte ich auf einmal die Sonnenstrahlen in unserem Zimmer. Mir war, als ob ich aus einem bösen Traum erwachte. Die Sonne lockte hinaus in die frische Luft, weg von der traurigen Lektüre. So spazierte ich bald erleichtert auf der Fußgängerstraße, der Bolschaja Pokrowskaja.

 

k-53. Ber. (1)

Wie an jedem Wochenende: Ponys und Pferdchen

Hier herrschte das übliche Wochenendtreiben. Gleich am Anfang verbreitete ein Bajanspieler eine festliche Stimmung mit seinem Instrument, das einem Akkordeon ähnelt. Etwas weiter standen, wie an jedem Wochenende, bunt geschmückt kleine Pferde und Ponys, auf denen Kinder reiten können. Der Spielplatz gegenüber war voll belegt, Kinder schaukelten oder kletterten auf den Gerüsten herum, was sie übrigens bei jedem Wetter tun. Ob kalt oder warm, Regen oder Schnee, bei Wind oder bei Sonne immer sind Kinder mit Eltern oder Großeltern da und vergnügen sich im Freien.

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Wie jeden Tag – bei Wind und Wetter: der belebte Spielplatz

 

Der Handschuh- und Mützenstand war aufgebaut, an der langen Mauer hingen, wie immer, Gemälde. Dem Bronzepärchen hatte jemand ein Geschenk auf die Hände gelegt. Das alles bei strahlender Sonne, eine Wohltat nach dem trübseligen Tagesbeginn.

 

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Mit Geschenk zum Tanz: die liebenswerte Skulptur an der Bolschaja Pokrowskaja

Ein riesiger Bagger kam langsam die Straße herauf und schob Schnee und Eis zusammen. Doch da stand – mitten im Schnee – ein Straßensänger, ein junger Mann mit Gitarre, vor sich ein Mikrophon und am Boden den offenen Gitarrenkasten für das erhoffte Geld. Der Bagger näherte sich, der junge Mann sang weiter, im Motorlärm kaum zu hören. Was würde nun geschehen? Ich sah etwas Erstaunliches: Das Baggerungetüm fuhr einen Bogen um den Sänger, der ungerührt weiter sein Liedchen trällerte. Schnee und Eis blieben an dieser Stelle liegen, aber das Lied konnte weitergehen, der Mann brauchte seine Sachen nicht wegzuräumen. Wie wäre das in Deutschland abgelaufen?

Abends gingen wir mit Irina und Siegie in ein Domra-Konzert, Motto: «Ее величество, Домра» (Ihre Majestät, die Domra). Die Domra ist ein altrussisches Musikinstrument aus der Balalaika-Familie, sie hat, ähnlich wie eine Laute, einen runden bauchigen Korpus.

k -53. Ber. (5)

Das Konzert fand im Alten Theatersaal der Universität statt. Für uns überraschend füllten die kleinen Instrumente leicht den ganzen Raum – ohne Verstärker. Sie konnten auch mit dem Klavier gut konkurrieren. Die Virtuosität der jungen Musiker war wieder unglaublich. Die Frequenz des Saitenanschlagens war so hoch, dass man manchmal meinte, es ertöne ein glatter Ton. Von den einzelnen Anschlägen des Plektrums war nur ein leichtes Tremolo zu hören. Die Musikstücke stammten von Hummel, Mendelsohn, Tschaikowski, Rachmaninow, Frolow, Zigankow und anderen Komponisten, oft speziell für Domras geschrieben oder bearbeitet. Und was wurde am Schluss auf diesen russischsten aller Musikinstrumente gespielt? Die Russische Hymne oder irgendein vaterländisches Lied? Nein, es erklang eine Bearbeitung des amerikanischsten aller Lieder, des „Yankee Doodle“. In der Musik und in der Kunst lassen sich Grenzen noch überwinden!

 k -53. Ber. (6)Es spielten Domra: Maria Nemanowa und Anton Kosilow,  Klavier: Olga Grines und Wladimir Isaew.