Von Stuttgart nach Nischni Nowgorod

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Der 12. Juni – Tag Russlands

10.06.16SAGS“

Nach den erlebnisvollen Tagen mit Besuchen und Reisen im Mai hatten wir zwei ‚normale‘ Wochen. Was ist zu berichten?

Nischni Nowgorod zeigte sich in den ersten Junitagen von der freundlichen Seite. Die Fußgängerzone lockte abends und an den Wochenenden mit einer heiteren, festlichen Atmosphäre: Viele Sänger und Musiker, kleine Verkaufsstände, Portraitmaler, Ponys zum Reiten für Kinder, Eis- und Teeverkäufer und gemütlich schlendernde Spaziergänger.

Es ist auch wieder die Hochzeit der Hochzeiten. Nicht weit von unserer Wohnung warten die Hochzeitsgesellschaften auf die Trauung.  Der normale Fußgänger schlängelt sich durch Gruppen festlich gekleideter Menschen, die vor dem Sags stehen, wie das Standesamt hier heißt: eine Abkürzung des umständlichen offiziellen Namens: Büro zur Einschreibung in die Liste des bürgerlichen Standes (загс: бюро́ за́писи а́ктов гражда́нского состоя́ния).

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Vor dem Standesamt: Stretch Limousine und Menschen

Vor dem Theater an der Bolschaja Pokrowskaja wurde für eine „Nacht der Literatur“ geworben: auf acht Staffeleien standen Plakate mit dem Programm der vielen Veranstaltungen an verschiedenen Orten in der Stadt. Anlass war der 217. Geburtstag von Alexander Puschkin, dem Vater der russischen Nationalliteratur, der am 6. Juni 1799 in der „Deutschen Vorstadt“ (Nemezkaja Sloboda) in Moskau geboren wurde. Puschkin ist der Urenkel des äthiopischen Fürsten Abraham Petrowitsch Hannibal, den Peter I. von seinem Gesandten in Istanbul als Sklave geschenkt bekommen hatte und den er zu seinem Patenkind und später zum Gouverneur von Reval machte. Puschkin und sein Werk sind in Russland noch heute viel lebendiger als in Deutschland das Schaffen unseres Dichterfürsten Goethe.

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Werbung für die Literaturnacht vor dem Theater

Im Naturschutzgebiet Scholkowski Chutor sind die Abfälle geräumt worden, die Strände der Seen mit den Badestellen, die Papierkörbe bei den Sitzbänken und den inoffiziellen Grillplätzen waren sauber – ein ungewöhnlicher Anblick, denn bisher haben wir uns immer über den herumliegenden Dreck geärgert.

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Scholkowski Chutor, Erholung im Naturschutzgebiet

Einmal im Monat besuche ich den kleinen Friseurladen im übernächsten Haus gleich nebenan. Er ist höchstens 20 m² groß und über eine Doppeltür – die äußere aus Eisen, die innere aus Holz – zu erreichen. Das Interieur stammt von IKEA, aus Erbstücken und vermutlich aus Eigenbau, denn die Frisierkommode mit Spiegel ist aus rohen Eisenstangen zusammengeschweißt. In einer Ecke gibt es ein winziges Becken für die Haarwäsche. Betrieben wird der Laden seit einigen Monaten von jungen Leuten. Merkwürdigerweise habe ich bei jedem Besuch anderes Personal angetroffen. Diesmal bediente mich eine kleine junge Frau und sie tat das sehr engagiert und flott. Sie geriet etwas in Unruhe, als sie in den vielen Kisten einen Aufsatz für das Haarschneidegerät nicht fand und per Telefon Rat einholen musste. Meine Ansprüche an die Friseurkünste sind haarmengen- und altersbedingt niedrig: „Oдин центиметер (1 cm) und eine Handbewegung quer über den Kopf“, das wird verstanden: Igelschnitt, einen Zentimeter lang. Dazu gab es holpriges Geplapper (von meiner Seite) und lebhaftes (von ihr) mit der Information, dass sie Nischni liebt, aber gern mal nach Berlin fahren würde, wo einer ihrer Freunde lebt. Diese landeskundlichen Erfahrungen waren für 300 Rubel (ca. 4 €) zu haben.

Am letzten Sonntag waren wir wieder in einem von Viktor Kusnezow geleiteten Konzert des Nischegoroder Russischen Volksorchester, das uns mit dem gekonnten, exakten Musizieren auf russischen Instrumenten (Balalaika, Domra, Gusli, Bayan) schon oft begeisterte. Das Programm unter dem Motto „Gute Laune“ enthielt Werke von Brahms, Piazzolla, Theodorakis und „Обер“. Ober? Nicht bekannt? Die Transkription ausländischer Wörter erfolgt hier einfach nach der russischen Aussprache. „Обер“ steht für „Aubert“. Es wurde für ein Jahres Abo geworben: sechs Konzerte für 1500 Rubel, z. Zt. etwa 20,- €.

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Glückwünsche zum Tag Russlands und zum Tag der Stadt am Kremlturm

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Am Gymnasium Nr.1 „Unser Land – Unsere Stadt – Unser Feiertag“

Plakate am Kremlturm, am Gymnasium Nr. 1 und Spruchbänder über Straßen und Parkeingängen zeigen an: ein wichtiges Ereignis steht bevor. Diesmal der Tag Russlands am 12. Juni, mit dem an die „Deklaration zur staatlichen Souveränität“ der Russischen Föderation von 1990 erinnert wird. Russland erklärte sich nach den baltischen Staaten und nach Georgien unabhängig von der Sowjetunion und besiegelte damit deren Ende. Das Motto auf den Plakaten lautet: „Unser Land – Unsere Stadt – Unser Feiertag“. Manchmal ist die Zahl 795 hinzugefügt; vor 795 Jahren, also 1221, wurde Nischni Nowgorod gegründet. Die Aufschriften zeigen eine gewisse Unklarheit: ist dies ein Gedenktag für das neue, 26 Jahre alte Russland oder für das fast 800 Jahre alte Nischni Nowgorod? Bei der Mehrheit der Russen ist dieser ab 1994 arbeitsfreie Feiertag noch nicht so richtig angekommen. Und die Kommunisten trauern der Sowjetunion ohnehin nach und wollen dies nicht feiern.

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Einsamer Rufer: Der 12. Juni – ein amerikanischer Feiertag. Der Zerfall der SSSR eine große Katastrophe

Die Sonderausgabe der Zeitung „Einiges Russland – Partei des Präsidenten“ mit dem Programm der Feiern in Nischni zeigt auf der Titelseite ein Foto von zwei jungen tanzenden Frauen in traditioneller Tracht, mit dem eher Volksfeststimmung als patriotisches Pathos propagiert wird. Die Aufschrift lautet: Glückwunsch zum bevorstehenden Tag Russlands. Darunter wird auf vier weitere Themen der zwölfseitigen Zeitung hingewiesen: auf das Programm der 795-Jahrfeier in Nischni, auf die Ergebnisse von parteiinternen Wahlen, darauf, wie Russland die USA im Eishockey besiegte und auf Notfallkoffer für Datschniki (Datscha-Besitzer). Auf Seite 2 finden sich Gedanken und Informationen zum Tag Russlands mit einem Zitat aus einer Erklärung Putins, illustriert mit dessen Foto – briefmarkengroß. Die andern drei Bilder auf dieser Seite von den Feiern in Moskau im letzten Jahr sind alle größer, eines mit der auf dem Boden ausgebreiteten russischen Fahne ist so breit wie die ganze Seite.

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Titelseite der Zeitung „Einiges Russlands“ mit dem Programm zum 12. Juni 2016 in Nischni Nowgorod

Auf Seite 3 folgt das Programm für die Feiern zum Tag der Stadt in Nischni. Beginn um 11 Uhr überall in der Stadt. Auf allen Plätzen läuft stündlich ein Film: „795 Schritte durch die Stadtgeschichte – 7 Stunden, 9 Denkmäler, 5 Strecken“. Um 22.30 Uhr beendet ein traditionelles Feuerwerk das Fest. (Russisch Феиерверк, Fe-ierwerk). Die Hauptveranstaltung auf dem Minin- und Poscharski Platz begann mit der russischen Nationalhymne und mit Ansprachen des Gouverneurs Schanzow und anderer Politiker, gefolgt von der Verleihung einiger Ehrenbürgerschaften. Auf und vor der Bühne hatten sich, wie es im Programm hieß, die 795 besten Sängerinnen und Sänger aus Nischegoroder Chören aufgestellt, überwiegend Schulkinder, aber auch Ältere waren dabei, so der Pensionärs-Chor der Fabrik Hydromasch, in dem unser Freund Siegie mitsingt. Danach wurde die kommende Fußball-WM 2018 besungen und auf den Bildschirmen der Text und Torszenen eingespielt. Es folgte ein Lied auf und über Nischni Nowgorod.

Währenddessen war auf dem Platz ein vielseitiges Angebot von Veranstaltungen aller Art im Gange. Fußball, Hockey, Boxen und Ringen, Trampolin, Gymnastik, Schach, Wettspiele und das alles mit wummernder Musik aus Lautsprechern. In einer Bude gab es mit der Zahl 795 verzierte Weihnachtskugeln zu kaufen. Ebenso dicht umlagert war ein Stand, an dem man sich für Ordnerdienste bei der WM 2018 eingetragen konnte – Altersgrenze 70. Auf dem Heimweg entlang der Bolschaja Pokrowskaja buntes Treiben von Straßenkünstlern, Musikern, Pantomimen und wie immer Verkaufsständen.

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Fußballhymne. Letzte Zeile: Mannschaft ohne die ich nicht leben kann

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Konzentration – allem Lärm zum Trotz

Unser zweites Schuljahr in Russland ist zu Ende, die russischen Schulferien haben am 1. Juni begonnen. Rose hat ihren Intensivkurs für die DSD-Schüler gestern abgeschlossen. In den Sommerferien fahren wir nach Deutschland. Am 1. September beginnt die Schule wieder. Nie hätten im August 2014 geglaubt, dass unser Russlandabenteuer so lange dauert. Wir haben den Aufenthalt bis Mitte 2017 verlängert, was zeigt, dass wir uns wohlfühlen und gern hier sind.

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Am 12. Juni 2016 beim Eingang in die Fußgängerzone

 


2 Kommentare

  1. Gudrun sagt:

    Der Blog gefällt mir, sind im August in Nischni, Kontakt?

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    • Leider werden wir erst am 29. August wieder nach Nischni kommen. Falls Sie dann noch da sein sollten – es ist ja noch August – könnten wir uns gern treffen. In jedem Fall wünsche ich Ihnen einen schönen Aufenthalt in der Stadt an der Wolga. Brauchen Sie Tipps? Eine Freundin hat gerade dieser Tage einen Stadtführer veröffentlicht und bei Amazon zu beziehen: Rinke, Franziska „Stadtführer Nischni Nowgorod“.

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